Die Glocke des Kirchleins Maria Waldrast läutet, vom Himmelsblau zeichnet sich scharf wie ein Scherenschnitt das Dolomitenmassiv ab. Freud nimmt seinen Strohhut, legt das Manuskript zu „Totem und Tabu“ aus der Hand und promeniert in die Sommerwelt, die sich vor ihm auf dem Rittner Sonnenplateau in 1200 Höhenmetern ausbreitet. „Lieber Freund, …hier auf dem Ritten ist es göttlich schön und behaglich. Ich habe eine unerschöpfliche Lust zum Nichtstun…!“, schreibt er im Jahr 1911 an C.G. Jung.
Freud genoss die legendäre Sommerfrische am Ort ihrer Entstehung: auf dem Rittner Hochplateau. Hier zog es seit jeher die Bozener Gesellschaft hin, um dem heißen Talkessel zu entfliehen und sich in den luftigen Höhen Oberbozens zu erfrischen. Schon im 16. Jahrhundert erfanden sie dafür einen Ausdruck – Sommerfrische. Bis heute ist er in einer Bozner Chronik belegt. Die lautmalerische Bezeichnung entwickelte sich schnell zum Modewort: man begab sich ab dem 29. Juni in die entspannte Zeit, die heute schmucklos Urlaub heißt.
Noch heute ist der Geburtsort der Sommerfrische, das Rittner Hochplateau, zugleich ihr Inbegriff. Imposante Häuser im alpinen Jugendstil thronen auf den sattgrünen Hängen Oberbozens. Darunter immer noch das Ziel vieler Sommerfrischler: das Parkhotel Holzner.
In den historischen Räumen des Hauses, das vor mehr als hundert Jahren auf einer Sonnenterrasse von der Rittner Seilbahn errichtet wurde und in vierter Familiengeneration geführt wird, wird die Sommerfrische greifbar. Der luftige Speisesaal mit seinen Panoramafenstern, die in die Bergwelt zeigen; das knarrend-glänzende Parkett, der Salon mit seinen originalen Jugendstil-Leuchtern und der alten Thonet-Bestuhlung. Das schwere Silber auf dem Tisch oder die holzvertäfelte Bar – das Haus gleicht einer Zeitreise und die historischen Aufnahmen im Flur zeigen, wie sich auch Oberbozen dank der Sommerfrische mauserte.
Pünktlich am 29. Juni, dem Peter- und Paulstag, wurden von den Boznern Köchin und Hausrat verstaut, die Kinder in Tragkörbe gepackt und zusammen mit der Hausherrin auf den Ritten gebracht. 72 Tage genossen sie die Sommerfrische in ihren prächtigen Häusern, die nach neuem Personal aus dem Ort verlangten und bis heute das liebliche Bild Oberbozens prägen.
Eine Atmosphäre, die später auch zahlreiche Künstler und Intellektuelle, wie Franz Kafka, Friderike Zweig, Hilde Domin, Otto Flake oder Sigmund Freud auf den Ritten zog. In einer kleinen Ausstellung im Bahnhof Oberbozen kann man Freuds Spuren folgen oder direkt die nach ihm benannte „Freud-Promenade“ erlaufen. Eine eineinhalb stündige Wanderung führt von Oberbozen nach Klobenstein vorbei an sanften Wiesen, duftigen Tann, Berghöfen und kleinen Wasserfällen. Eine Pause gefällig oder zurück mit der Rittner-Bahn? Die historische Schmalspurbahn von 1907, zockelt durch Wald und Flur und hält direkt vorm Parkhotel Holzner in Oberbozen. Stilvoll kann man dort im modernen Jugendstil Restaurant 1908 speisen und den Abend mit feiner, regionaler Küche, die gerade zwei Hauben erhielt, ausklingen lassen. Und vielleicht erblickt man hinter einer Zeitung den Herrn in hellem Leinenanzug und Strohhut. Vielleicht ein Doppelgänger oder eine Erinnerung an den intellektuellen Sommerfrischler Freud.